Österreich forscht wurde ins vorweihnachtliche Graz eingeladen, um einen Vortrag beim Sprachennetzwerk Graz zum Thema Citizen Science zu halten und sprachwissenschaftliche Citizen Science-Projekten vorzustellen.
Für die Geisteswissenschaften ist das gar nicht so leicht zu beantworten. Das fängt schon beim Begriff „science" an. Denn im Englischen bezieht sich der Begriff "science" in erster Linie auf die Naturwissenschaften, während das deutsche "Wissenschaften" auch die Geisteswissenschaften miteinschließt. Beim Begriff „Citizen Science" ist es einfacher, denn für die europäische Citizen Science-Gemeinschaft sind auch geisteswissenschaftliche Projekte, die einen partizipativen Ansatz verfolgen, „Citizen Science". Um jedoch die Besonderheiten von sozial- oder geisteswissenschaftlichen Citizen Science-Projekten hervorzuheben, werden auch die Begriffe „citizen social science" für sozialwissenschaftliche und „citizen humanities" für geisteswissenschaftliche Citizen Science-Projekte verwendet. Zwar wird auch das „Citizen" in „Citizen Science" viel diskutiert, aber das ist eine andere Geschichte.
Während in den Naturwissenschaften die Geburtsstunde von Citizen Science vermutlich mit dem Audubon Christmas Bird Count, der im Jahr 2024 zum 125-igsten Mal stattfand, schlug, so gab es auch in den Sprachwissenschaften bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Praxis von (wenn auch noch nicht das Wort) Citizen Science. Beispielsweise wurden für das Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ) von den Akademien Inserate in Zeitungen geschaltet, um Sammler*innen für den Dialektwortschatz im bairischen Sprachraum zu finden. Diese Sammler*innen wurden dann ab 1913 mit Fragebögen und Fragebüchern ausgestattet, um den lokalen Dialekt im Auftrag der Forscher*innen zu erheben.
Wo das geklärt ist: Wo ist also die Grenze zwischen traditionellen sprachwissenschaftlichen Forschungsprojekten und Citizen Science in der Sprachwissenschaft?
In den Geisteswissenschaften stehen Menschen häufig im Zentrum der Forschung, z.B. als Forschungssubjekte. Bei Citizen Science arbeiten Wissenschafter*innen mit Angehörigen der Öffentlichkeit zusammen. Allerdings sind diese dann nicht das Forschungsinteresse der Wissenschafter*innen, sondern wirken in unterschiedlichen Schritten des Forschungsprozesses selbst aktiv mit: Sie tragen Daten bei und können auch bei der Analyse, Interpretation und sogar der Gestaltung von Forschungsfragen mitwirken. Der entscheidende Unterschied liegt also in der aktiven Teilhabe und Mitgestaltung, die die Teilnehmenden einen Schritt weiter in die Rolle von Co-Forschenden bringt. Die Abgrenzung zur klassischen Forschung ist demnach, dass es bei Citizen Science eben nicht darum geht, dass die Teilnehmenden beispielsweise einen Fragebogen ausfüllen oder an Fokusgruppeninterviews teilnehmen.
Die Abgrenzung zur Wissenschaftskommunikation liegt unter anderem darin, dass es bei Citizen Science nicht nur darum geht, Bewusstsein für ein Thema wie Sprachenvielfalt oder Biodiversität zu schaffen oder Inhalte zu einem Thema (=Bildungsauftrag) zu vermitteln. Vielmehr übernehmen Teilnehmer*innen aktiv Aufgaben in einem Forschungsprojekt, die normalerweise auch von Wissenschafter*innen erledigt werden könnten – etwa das Sammeln, Analysieren oder Transkribieren von Daten. Citizen Science braucht eine Forschungsfrage bzw. ein Forschungsziel und setzt sich damit klar von Wissenschaftskommunikation ab.
Im Umkehrschluss soll das aber nicht heißen, dass Citizen Science keinen Spaß machen darf oder, dass Citizen Science-Projekte nur der Beantwortung einer Forschungsfrage dienen. Citizen Science-Projekte dürfen bzw. müssen sich sogar (Methoden) der Wissenschaftenkommunikation bedienen oder Inhalte (in Schulungen) vermitteln, z.B. wenn es um die Bestimmung von Arten oder das Erkennen von Sprachen in Schrift im öffentlichen Raum geht. Bildung und Wissenschaftskommunikation gehen mit Citizen Science-Projekten oft Hand in Hand.
Citizen Science-Projekte setzen außerdem teils spielerische Elemente ein, um die Zielgruppe anzusprechen, die Teilnehmenden bei Laune zu halten und langfristig einzubinden – sei es durch Abwechslung, Motivation oder einfach aus Spaß an der Sache.
So zum Beispiel haben wir in unserem bereits abgeschlossenen Citizen Science-Projekt IamDiÖ (In aller Munde und aller Köpfe – Deutsch in Österreich) linguistische Schnitzeljagden veranstaltet. Das war mit ein Grund, warum das Sprachennetzwerk Graz Österreich forscht eingeladen hat: Um dem Netzwerk Citizen Science in den Sprachwissenschaften und das Konzept der linguistischen Schnitzeljagden vorzustellen.
Worum geht es also bei den „Schnitzeljagden nach Schrift im öffentlichen Raum"? Die Grundidee ist simpel: Forscher*innen wollen die Sprachlandschaft (Österreichs) untersuchen. Dafür benötigen sie Bilder von schriftlicher Sprache im öffentlichen Raum, wie beispielsweise von Laden- oder Straßenschildern, Inschriften oder Sticker auf Fahrradständern.
Ähnlich wie es bei BioBlitzes oder dem traditionellen Christmas Bird Count in den Naturwissenschaften der Fall ist, sollen in kürzester Zeit (in einem bestimmten Gebiet) möglichst viele Menschen Daten sammeln: In den Naturwissenschaften sind diese Daten halt Meldungen von Tier- und Pflanzenarten und im Falle von Sprachlandschaften eben Bilder von Schrift im öffentlichen Raum.
Die linguistischen Schnitzeljagden beinhalten zusätzlich noch ein spielerisches Element: Die Teilnehmenden müssen Rätsel lösen, um von Hinweisstation zu Hinweisstation und schließlich zum Zielort zu gelangen. Auf dem Weg dazwischen sollen sie in Gruppen so viele Bilder von Schrift im öffentlichen Raum machen wie möglich. Es gewinnt jene Gruppe, die die meisten verschiedenen (!) Bilder von Schrift im öffentlichen Raum gemacht und annotiert, sowie alle Rätsel gelöst und sich am Zielort eingefunden hat (keine Sorge: Wir hatten ihnen eine Notfallnummer gegeben, falls sie auf dem Weg verloren gehen sollten).
Kurzum: Citizen Science darf (auch) Spaß machen. Und nicht nur den Teilnehmenden, sondern auch den Wissenschafter*innen 😉. Und: Die linguistischen Schnitzeljagden waren Spaß: Egal ob mit Erwachsenen, Schüler*innen oder Studierenden; egal bei welchem Wetter. (Tipp am Rande: Wir haben dann in Zukunft die Schnitzeljagden bei Schlechtwetter abgesagt und auf einen Tag verlegt, an dem uns laut dem Wetterforsch Petrus gnädiger war).
Die Vorbereitung und Durchführung der linguistischen Schnitzeljagd waren jede Menge Arbeit (besonderer Dank an dieser Stelle an meine ehemaligen Kolleginnen), allerdings ermöglichten sie uns, in kurzer Zeit möglichst viele Daten (=geoverortete Bilder von Schrift im öffentlichen Raum) zu sammeln und (vor-)analysieren zu lassen.
Damit sich das Sprachennetzwerk Graz einen Eindruck von den Möglichkeiten von Citizen Science in den Sprachwissenschaften machen konnte, wurde ein weiteres Citizen Science-Projekt, das Grazer Linguin-Projekt, vorgestellt, das ebenfalls die Dokumentation von Sprache im öffentlichen Raum zum Ziel hat.
„Ist Citizen Science was für das Sprachennetzwerk Graz?" war dann die Frage für die nachfolgende Diskussion in Kleingruppen. Anhand der vier Punkte „Ideen", „Mehrwert", „Bedenken" und „Möglichkeiten" wurde die vom Sprachennetzwerk Graz angestoßene Citizen Science-Idee „Multilingual spaces of hope in Graz" diskutiert.
In den Diskussionen zeigte sich, dass Sprachen immer politisch sind und dies zu gewissen Schwierigkeiten bei der Projektumsetzung führen könnte. Deswegen ist es umso wichtiger zu zeigen, dass das Erlernen von Sprachen sowohl kognitiv als auch kommunikativ vorteilhaft ist, da Mehrsprachigkeit das Denken beeinflusst und wichtig für das Zusammenleben ist.
Graz ist ein guter Ort für sprachwissenschaftliche Citizen Science-Projekte – und dafür spricht einiges: Die vielfältigen Initiativen des Sprachennetzwerks Graz treffen auf bereits existierende Projekte, die die sprachliche Vielfalt der Stadt erforschen bzw. die dafür nötige Infrastruktur geschaffen haben. Vielleicht macht ja auch das Sprachennetzwerk Graz die Grazer*innen bald zu Sprachdetektiven oder schickt sie auf Forschungsmission im Sinne von: Sprache erleben, Daten erheben.
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